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Meine Monster im Kopf und die Selbstfürsorge

Alles für die Selbstoptimierung?

ME-TIME, SELF-CARE, Zeit für sich selbst, Selbstfürsorge, Quality Time, Work-Life-Balance, mehr Lebensqualität,…

Alles Begriffe, die mir (gefühlt) momentan überall begegnen, ebenso die dazugehörigen Produkte, die dem Leser ein besseres Leben ermöglichen sollen – wenn er sie denn kauft und anwendet.

Das Internet, Zeitschriften und die neuen Medien sind voll von Tipps und Ratschlägen, die helfen sollen, sich zu entspannen, neue Energie zu tanken oder gesünder zu leben. Es gibt Artikel für optimale Ernährung, Entspannungsübungen für Berufstätige, Tipps für mehr Bewegung trotz Stress im Alltag und vieles mehr. Für den einen gehört das Glas Wein am Abend dazu, für den anderen ein langes Vollbad mit extra viel Schaum oder eine Ganzkörpermassage im nahegelegenen Wellnesstempel.


Treffer bei Google zum Thema Selbstfürsorge

Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es den Schreibern dieser Artikel und Beiträge im World Wide Web wieder um Selbstoptimierung geht: also noch gesünder, leistungsfähiger, schneller, ausdauernder, besser, stärker zu werden.

Selbstfürsorge in der Psychotherapie

Machen Sie das was Ihnen gut tut!
Was würde Ihnen jetzt gut tun?
Tu dir was Gutes!

Diese Sätze sind mir so und in ähnlicher Form bezüglich meiner psychischen Erkrankungen wirklich sehr oft begegnet und scheinen zum Standardprogramm jeder Psychotherapie zu gehören. Doch gerade wenn es mir schlecht geht, fällt es mir immer noch schwer, diese Frage zu beantworten.

Thema Selbstfürsorge und ich

Während meines ersten Klinikaufenthaltes vor fast 10 Jahren bin ich zum ersten Mal mit diesen Thema Selbstfürsorge in Berührung gekommen, konnte aber – ehrlich gesagt – nicht viel damit anfangen. Ganz im Gegenteil: die regelmäßige Frage meines zuständigen Psychotherapeuten „Was würde Ihnen jetzt gut tun?“ nervte mich jeden Tag mehr. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was mir bei meiner depressiven Stimmung, meiner Angst, meinen Suizidgedanken, meinen Selbstvorwürfen und den weiteren destruktiven Gedanken jetzt gut tun würde – nichts schien zu helfen.

Bereits vor meiner Einweisung in die Klinik startete ich zahlreiche Versuche mich aus diesem dunklen Loch zu ziehen und diese unerträgliche Kraftlosigkeit, diese starke Müdigkeit zu überwinden. Ich versuchte es mit Ausruhen, Regeneration in der Therme und Entspannung in der Hängematte, doch trotz mehrer Wiederholungen stellte sich keine Erholung ein – ganz im Gegenteil: die Symptome wurden schlimmer. Sobald ich zur Ruhe kam, spürte ich meine innere Anspannung/ Unruhe, meine Monster im Kopf wurden aktiv und ich hielt mich für total unfähig und den totalen Versager. Auch mein Umfeld versuchte mich zu mehr Aktivität zu animieren, aber die Spaziergänge und Besuche setzten mich dermaßen unter Druck: „Die geben sich so viel Mühe mit mir und mir geht´s trotzdem nicht besser“. Das Einzige was mir half war Schlaf: nichts mehr mitkriegen, nicht denken, mich ausschalten, alles vergessen und hoffen, dass die Zeit schnell rum geht – mit der Hoffnung, dass es mir beim Aufwachen besser geht.

Selbstfürsorge meiner Mitpatienten

In der Klinik wurden mir dann immer wieder die gleichen Fragen gestellt: Was brauchen Sie jetzt? Was würde Ihnen jetzt gut tun? Ich konnte diese Fragen einfach nicht beantworten und kam mir dabei total blöd vor.
Und so fing ich an meine Mitaptienten zu beobachten, um herauszufinden, was denen so in so einer Situation gut tut, doch meistens taten sie – in meinen Augen – nichts. Sie saßen rum, unterhielten sich, malten, schrieben oder gingen spazieren.

Auch in den Gruppentherapien versuchte ich genau zuzuhören, um vielleicht eine passende Idee, einen Tipp zu erhalten, wie ich meine nächtlichen Heulattacken, die innere Anspannung in den Griff bekomme. Immer mehr Fragezeichen tauchten in mir auf, als sich die Mitpatienten über Gefühle und deren Regulierung austauschten. Sie redeten über Wut und Kissen schlagen, über Traurigkeit und eine Umarmung, über Ängste und entlastende Gespräche. Für mich alles Neuland. Auch ich wurde gefragt, welche(s) Gefühl(e) hinter meinen nächtlichen Weinkrämpfen, der Anspannung stehen, doch außer Schulterzucken und „ich weiß nicht“ kam von mir nichts. Und wieder fühlte ich mich wie ein Alien, ein Versager und wollte am liebsten für immer verschwinden.

Doch ich blieb schweigend sitzen und hoffte weiterhin auf Tipps, Handlungsvorschläge und Strategien, wie ich meine Schlafstörungen und Ängste in den Griff bekomme und wie ich nicht bei jeder „Kleinigkeit“ heulen muss. Ich hatte den Anspruch an mich selbst alles(!) richtig zu machen und alle(!) Therapiebausteine zu nutzen, um so schnell(!) wie möglich wieder fit für´s Arbeitsleben zu sein, um wieder „richtig“ zu funktionieren. Ich wollte eine vorbildliche Patientin sein und so strengte ich mich bei den einzelnen Therapien an, ja alles richtig zu machen

Für mich war damals klar, dass der Fehler bei mir liegt: ich habe mich nicht genug angestrengt, ich war zu dumm, diese Hilfsangebote richtig zu nutzen. Ich gab mir die Schuld dafür, dass sich bei mir keine Besserung einstellte und ich immer noch unter massiven Ängsten, Schlaflosigkeit und Heulattacken litt. Irgendwas musste ich doch falsch machen…

Alles nur Zeitverschwendung?

Auf die Idee, bei meinem Therapeuten nachzufragen und ihn über meine Schwierigkeiten mit der Therapie zu informieren, kam ich damals nicht. Ich hatte viel zu viel Angst, als therapieunwillig und zu dumm dazu stehen, weil ich die Therapie bei mir nicht anschlug. Und so war ich die ersten Wochen in Klinik damit beschäftigt mich anzupassen, um nicht aufzufallen. Auf die Frage „Was würde Ihnen jetzt gut tun?“ beantworte ich mit den Dingen, die ich von meinen Mitpatienten aufgeschnappt hatte: „ein Kakao“, „eine Wärmflasche“ oder „meine Ruhe“ – ich war einfach nur froh mit dieser Frage, nicht weiter gequält zu werden, weil der Therapeut sich damit zufrieden gab. Natürlich probierte ich diese Dinge auch aus, doch ich konnte nicht mal sagen, ob mir ein Kakao oder eine Wärmflasche zur Besserung meines Befinden beitrugen. Ich wollte mir auf keinen Fall anmerken lassen, dass diese „einfache“ Frage mich immer noch total überforderte.

Ich hatte damals wirklich keine Ahnung wie Therapie funktioniert und konnte mir partout nicht vorstellen, wie „sich etwas Gutes tun“ mir bei meiner zunehmenden Erschöpfung und für mich grundlosen Ängsten helfen könnten. Ich saß doch hier nur rum, hatte doch Zeit (meiner Meinung nach viel zu viel Zeit) zwischen den einzelnen Therapienbausteinen und wollte die Zeit nicht mit einem Vollbad „verschwenden“. Ich dachte: wenn ich schaffe, mich nicht mehr so anzustellen und mich bei der Therapie nur genug anstrenge, dann klappt´s auch wieder mit dem Arbeiten.

Jetzt, rückblickend, ist mir klar, warum es mir damals immer schlechter ging und Suizidgedanken mich mehr und mehr quälten. Damals konnte ich keinen Zusammenhang erkennen.

Mein Weg zu mehr Selbstfürsorge

Die Wende in meiner Therapie läutete ein nächtliches „Gespräch“ mit einem Krankenpfleger der Station ein. Schon seit mehreren Tagen bot er mir an, zu ihm zu kommen, wenn es mir wieder so schlecht geht, ich heulen muss und ich nicht weiter weiß. „Sie müssen nicht wissen, wie ich helfen kann. Sie dürfen auch einfach so kommen“ seine Worte erreichten mich und irgendwie spürte ich eine Entlastung: ich muss keine Lösung für mein Problem parat haben, damit mir geholfen werden kann – ich darf einfach so kommen. Diese Worte setzten sich in meinem Gehirn fest und so traute ich mich eines Nachts verheult an das Stationszimmer zu klopfen, als dieser Pfleger Nachtdienst hatte. Sprechen konnte ich nicht, doch das war für ihn kein Problem, da er Fragen stellte, die ich mit Kopfnicken bzw. -schütteln beantworten konnte.

In dieser Nacht stellte er den ersten Kontakt zu meinen Monstern im Kopf her und ich erfuhr zum ersten Mal, dass es in mir (Pesönlichkeits-) Anteile gibt, denen es gar nicht gut geht, die Ängste haben, die traurig sind und die bisher aber schweigen und sich verstecken mussten (schließlich musste ICH ja funktionieren, durfte keine Schwäche zeigen).

Seit dieser Nacht bekam ich eine erste Ahnung, warum Psychotherapie nützlich sein kann und ganz langsam verstand ich auch über was sich meine Mitpatienten in den Gruppentherapien austauschten. Doch selbst über mein Inneres zu sprechen, davon war ich noch meilenweit entfernt.
Aber mir ist klar geworden, dass es für mich darum geht, diese Monster in meinem Kopf, diese inneren Anteile kennen zu lernen, ihnen zuzuhören und herauszufinden was ihnen wann gut tut. Ich muss mich selbst also ganz neu entdecken, um mir die Fürsorge zukommen zu lassen, die ich wirklich brauche und nicht die gutgemeinten Ratschläge, um wieder (besser) zu funktionieren.

Inwischen weiß ich, dass mir außer Schlafen, z.B. auch Laufen und Schreiben sehr gut tun, wenn meine Monster im Kopf hyperaktiv und quälend werden. Das ist aber bestimmt nicht alles und so ich werde meine Entdeckungsreise fortsetzen. Meine Erfahrungen und für mich nützliche Möglichkeiten der Selbstfürsorge tauchen sicher dann in dem einem oder anderen Blogartikel auf – versprochen.

Ein Gedanke zu „Meine Monster im Kopf und die Selbstfürsorge“

  1. Hi Sonja. Das kann ich gut nachvollziehen. Selbstoptimierung um schneller , emotionsloser zu funktionieren, geht mir ganz schön auf den Senkel. Es ist für mich jetzt auch wieder neu mich als Single Kennenzulernen. Ich war zwar schon lange ziemlich selbstständig, dank meiner Selbsthilfegruppe…aber es ist doch nochmal anders jetzt. Ich weiß auch oft nicht , was mir gut tut. Aber ich bemühe mich offen zubleiben. Manchmal hab ich auch keine Lust, und versuche das zu akzeptieren . Überhaupt..Annehmen meiner selbst..so wie ich bin.. Ich übe😎 Drück dich🤗

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